Montag, 12. Januar 2015

Mein Vater, der Pflegefall

Andere Väter helfen ihren Kindern bei der Steuererklärung, meiner ist dement und pflegebedürftig. Aber im Umgang mit ihm habe ich mehr gelernt als in meinem Studium. Ein Leserartikel von Marion Einsiedler


Ich bin Marion, studiere Medizin in München und unterrichte nebenher an der Uni. In meiner Freizeit tanze ich Ballett – wenn ich nicht gerade ein Skirennen gewinne. Mein Vater ist Personalchef in einer großen Firma. Guter Job, hohes Ansehen. Er ist ein stolzer Mann, der seine Tochter gern präsentiert. Eloquent und gewitzt. Ein Charmeur. Am liebsten trinkt er Erdbeermilchshakes.
Schön wär's. Ich studiere zwar tatsächlich, habe mir aber einen sozialwissenschaftlichen Masterstudiengang ausgesucht, der mich geradewegs in die Arbeitslosigkeit führen wird. So wird es mir zumindest von allen Seiten prophezeit. Ballett tanze ich seit vier Jahren nicht mehr, und das letzte Skirennen bin ich gefahren, als ich 14 war. Ich kam als 15. ins Ziel. Ich unterrichte auch nicht an der Uni, sondern arbeite als Aushilfssekretärin in einem kleinen Unternehmen.

Auch das mit meinem Vater stimmt nicht. Er ist dement und wohnt, mit 58 Jahren, in einem Pflegeheim in Baden-Württemberg, wo er sich ein 14 Quadratmeter großes Zweibettzimmer mit einem 93-jährigen, bettlägerigen Alzheimerpatienten teilt. Vor drei Jahren hat er in Folge einer voranschreitenden MS-Erkrankung sein Auto zu Schrott gefahren. Totalschaden. Seitdem sitzt er im Rollstuhl. Er kümmert sich rührend um das Wohlbefinden der anderen Heimbewohner, die im Schnitt 30 Jahre älter sind als er. Auf der Verpackung seines geliebten Erdbeermilchshakes steht "Hochkalorische Trinknahrung".
Während andere Väter ihren studierenden Kindern bei der Steuererklärung helfen, Schränke schleppen oder Waschmaschinen anschließen, habe ich für ihn Anträge auf eine Betreuung ausgefüllt. Ich habe seine Waschmaschine verkauft und seine Schränke ausgeräumt. Mein Vater schleppt natürlich auch keine Möbel – ich schiebe ihn im Rollstuhl über die Wurzeln auf dem Waldweg, den er unbedingt entlanggefahren werden möchte.

"I am out of order", schleuderte er mir eines Sonntags entgegen, als ich ihn wieder einmal im Rollstuhl über Wurzeln bugsierte. Ich freute mich, dass er noch Englisch konnte und war gleichzeitig betroffen von der Wucht seiner Worte. Während mir dieser Satz monatelang nicht mehr aus dem Kopf ging, strahlte mich mein Vater schon fünf Minuten später an, weil die Sonnenstrahlen so schön durch das Laub der Bäume schienen. Später saßen wir noch zusammen auf der Terrasse des Heims. Ich trank einen Cappuccino, während mein Vater aus seiner Studentenzeit erzählte. Ich genoss es, seinen Geschichten zu lauschen und lehnte mich zum ersten Mal seit langer Zeit entspannt zurück.

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