Andere Väter helfen ihren Kindern bei der Steuererklärung, meiner ist 
dement und pflegebedürftig. Aber im Umgang mit ihm habe ich mehr gelernt
 als in meinem Studium. Ein Leserartikel
Ich bin Marion, studiere Medizin in München und unterrichte nebenher 
an der Uni. In meiner Freizeit tanze ich Ballett – wenn ich nicht gerade
 ein Skirennen gewinne. Mein Vater ist Personalchef in einer großen 
Firma. Guter Job, hohes Ansehen. Er ist ein stolzer Mann, der seine 
Tochter gern präsentiert. Eloquent und gewitzt. Ein Charmeur. Am 
liebsten trinkt er Erdbeermilchshakes.
Schön wär's. Ich studiere zwar tatsächlich, habe mir aber einen 
sozialwissenschaftlichen Masterstudiengang ausgesucht, der mich 
geradewegs in die Arbeitslosigkeit führen wird. So wird es mir zumindest
 von allen Seiten prophezeit. Ballett tanze ich seit vier Jahren nicht 
mehr, und das letzte Skirennen bin ich gefahren, als ich 14 war. Ich kam
 als 15. ins Ziel. Ich unterrichte auch nicht an der Uni, sondern 
arbeite als Aushilfssekretärin in einem kleinen Unternehmen.
Auch das mit meinem Vater stimmt nicht. Er ist dement und wohnt, mit 
58 Jahren, in einem Pflegeheim in Baden-Württemberg, wo er sich ein 14 
Quadratmeter großes Zweibettzimmer mit einem 93-jährigen, bettlägerigen 
Alzheimerpatienten teilt. Vor drei Jahren hat er in Folge einer 
voranschreitenden MS-Erkrankung sein Auto zu Schrott gefahren. 
Totalschaden. Seitdem sitzt er im Rollstuhl. Er kümmert sich rührend um 
das Wohlbefinden der anderen Heimbewohner, die im Schnitt 30 Jahre älter
 sind als er. Auf der Verpackung seines geliebten Erdbeermilchshakes 
steht "Hochkalorische Trinknahrung".
Während andere Väter ihren studierenden Kindern bei der 
Steuererklärung helfen, Schränke schleppen oder Waschmaschinen 
anschließen, habe ich für ihn Anträge auf eine Betreuung ausgefüllt. Ich
 habe seine Waschmaschine verkauft und seine Schränke ausgeräumt. Mein 
Vater schleppt natürlich auch keine Möbel – ich schiebe ihn im Rollstuhl
 über die Wurzeln auf dem Waldweg, den er unbedingt entlanggefahren 
werden möchte.
"I am out of order", schleuderte er mir eines Sonntags 
entgegen, als ich ihn wieder einmal im Rollstuhl über Wurzeln bugsierte.
 Ich freute mich, dass er noch Englisch konnte und war gleichzeitig 
betroffen von der Wucht seiner Worte. Während mir dieser Satz monatelang
 nicht mehr aus dem Kopf ging, strahlte mich mein Vater schon fünf 
Minuten später an, weil die Sonnenstrahlen so schön durch das Laub der 
Bäume schienen. Später saßen wir noch zusammen auf der Terrasse des 
Heims. Ich trank einen Cappuccino, während mein Vater aus seiner 
Studentenzeit erzählte. Ich genoss es, seinen Geschichten zu lauschen 
und lehnte mich zum ersten Mal seit langer Zeit entspannt zurück.
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http://www.zeit.de/studium/uni-leben/2015-01/demenz-vater-pflege
 
 
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