Mittwoch, 7. Januar 2015

Was macht Kultur mit unserem Hirn?

Interview mit Gerhard Roth
Von Markus Reiter

Wenn wir Musik hören, ein Gemälde betrachten oder ein Buch lesen, löst dies eine ganze Reihe neurobiologischer Prozesse aus – welche, erklärt der Hirnforscher Gerhard Roth.

Die Leitwissenschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist die Hirnforschung. Kein Wunder also, dass sich die Wissenschaftler auch mit dem Verhältnis von Kunst und Gehirn beschäftigen. Der Neurobiologe Gerhard Roth, Professor für Verhaltensphysiologie an der Universität Bremen, verrät, was im Gehirn vor sich geht, wenn wir Kunst genießen.

Herr Professor Roth, lässt sich Kunstgenuss wirklich so einfach als feuernde Neuronen in  bestimmten Hirnarealen und als ausgeschüttete und andockende Botenstoffe beschreiben?
Im Prinzip schon. Es ist nicht ganz leicht, die Vorgänge im Gehirn beim Kunstgenuss im Einzelnen experimentell zu untersuchen. Aber es besteht kein Zweifel daran, dass immer, wenn wir Vergnügen an der Kunst empfinden, bestimmte Botenstoffe ausgeschüttet werden. Das sind in erster Linie hirneigene Opioide, also opiumähnliche Stoffe. Sie sind stets im Spiel, wenn wir etwas als schön empfinden. Wenn uns ein Musikstück oder ein Gemälde hingegen missfällt, kommen andere Botenstoffe zum Einsatz, zum Beispiel die Substanz P. Sie dockt an die Schmerzrezeptoren an. Musikalische Missklänge können also in der Tat körperliche Schmerzen auslösen.
Sind Bach und Mozart für unser Gehirn demnach nichts anderes als ein Cocktail an Neurotransmittern?
Ja. Aber das ist sehr vereinfacht gesagt. Besonders das Musikempfinden ist inzwischen von den Neurowissenschaften gut untersucht. Musik, die wir als schön empfinden, regt den Hypothalamus und die Hypophyse im Bereich des Zwischenhirns an, hirneigene Opioide zu produzieren. Diese docken an bestimmten Stellen des Gehirns an, vor allem im Nucleus accumbens tief in unserem Gehirn, aber auch im unteren Stirnhirn, wo uns Gefühle bewusst werden. Diese Neurotransmitter rufen ein Gefühl des Wohlbefindens hervor, das von stiller Freude bis Ekstase reichen kann. Zugleich wird vermehrt ein anderer Botenstoff im Hirnstamm produziert, das Serotonin. Dabei handelt es sich um einen Neurotransmitter mit vielerlei Wirkungen, der aber in diesem Falle einen beruhigenden Einfluss hat. Eine sehr stille, langsame Musik, die wir unter anderen Umständen sogar als langweilig empfinden würden, stimuliert nachweislich die Serotoninproduktion.
Andererseits macht eine Unterversorgung mit Serotonin aggressiv. Kann Kunst also auch Aggressionen auslösen?
Genauer gesagt: Menschen, die über zu wenige Andockstellen eines bestimmten Typs für Serotonin verfügen oder bei denen zu wenig Serotonin produziert wird, reagieren sehr schnell sehr aggressiv. Die Grundlagen dafür werden vor allem in der vorgeburtlichen und in der frühkindlichen Phase gelegt.
Über Geschmack kann man ja bekanntlich nicht streiten. 
Was die einen als Missklang empfinden, zum Beispiel atonale Musik, halten die anderen für schön. Wie kommt das? 
Das liegt daran, dass unser Gehirn in der Lage ist zu lernen und sich zu verändern. Deshalb finden einige Menschen nach längerer Zeit zum Beispiel Musik nicht nur von Bach, sondern auch von Schönberg schön. Dahinter steht ein Gewöhnungsprozess, der sehr stark kulturell geformt ist. Wir beobachten das auch im globalen Vergleich: Bestimmte Arten von Musik und Tonalität werden nur in bestimmten Kulturen als angenehm empfunden. Das liegt daran, dass die Menschen damit seit früher Jugend aufgewachsen sind. Hingegen empfinden fast alle Menschen auf der Welt, sofern sie einigermaßen musikalisch sind, Stücke von Mozart und Bach als schön.
Wie kommt das?
Es gibt offenbar universelle Kriterien der Schönheit. Dazu gehören in der Musik wie in der bildenden Kunst: Einfachheit, Klarheit und starke Kontraste. Bei Bach spricht die klare Gliederung Menschen universell an; bei Mozart ist es die anrührende Harmonie. Beethoven hingegen wird von vielen Zuhörern als provozierend empfunden, als zu auftrumpfend, zu fordernd. Aber das Gehirn verändert sich im Laufe des Lebens. Es lernt, neue Aspekte zu erkennen. Ich selbst konnte früher mit Richard Wagner nicht allzu viel anfangen. Inzwischen finde ich einige Opern faszinierend, vermutlich weil sie verschiedene Areale meines Gehirns aktivieren. Im funktionellen Magnetresonanztomografen, dem Gehirnscanner, lässt sich nachweisen, dass sich die Areale für Musik, zum Beispiel die Bereiche für die Gefühlsrepräsentation, vergrößern, je öfter und intensiver wir sie hören. Das führt dazu, dass ein Dirigent Misstöne der zweiten Geige heraushören kann, die einem weniger geschulten Laien entgehen. Übrigens: wenn wir selbst Musik machen, vergrößern sich die sensorischen und motorischen Areale. Wer einmal als Kind intensiv Klavierspielen gelernt hat, verlernt es nie völlig. Die Fähigkeit wurde in den tieferen Regionen des Gehirns, ins Fertigkeitengedächtnis in den Basalganglien, fest eingeschrieben.

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