In deutschen Pflegeheimen werden wahllos Beruhigungsmittel verschrieben. Dabei ginge es auch anders
Für ihn ist es mehr als ein Verdacht. Wenn Claus Fussek
 von deutschen Pflegeheimen spricht, ist er sich sicher: Viele Menschen,
 die dort leben, werden ruhiggestellt. "Sehr viele Pflegeheime sind 
weitgehend rechtsfreie Räume", sagt er. Fussek ist Sozialpädagoge, seit 
35 Jahren beschäftigt er sich mit den Zuständen in deutschen 
Pflegeheimen, er ist eine Art Anlaufstelle für alle Pfleger, Heimleiter 
und Angehörige geworden, denen ein Missstand auffällt. Es gibt wohl nur 
wenige, die sich in deutschen Heimen so gut auskennen wie Fussek, der 
hauptberuflich im Münchner ambulanten Beratungs- und Pflegedienst 
"Vereinigung Integrationsförderung" arbeitet.
Im Juni hatte die
        ZEIT
        (Nr. 24/15) über den massenhaften Missbrauch von Schlaf- und 
Beruhigungsmitteln, Benzodiazepinen und Z-Substanzen, berichtet. 
Glaubt man Fussek, werden solche Mittel in den Pflegeheimen besonders 
häufig und besonders wahllos gegeben. Verlässliche Zahlen über die 
Abgabe in Heimen gibt es nicht. Aber, sagt Fussek, jeder in der Branche 
wisse, dass eine Apotheke neben einem Pflegeheim "eine Goldgrube" sei. 
Eine Apothekerin habe ihm gesagt, es sei unverantwortlich, was sie jedes
 Jahr ins Heim liefere. Und ein Bestatter habe vermutet, das Ausmaß der 
Medikamentenabgabe käme erst ans Licht, wenn man alle Verstorbenen 
obduzieren würde. Offen darüber reden möchte kaum einer, aber Fussek 
kommt nach zahlreichen Gesprächen zu dem Schluss: "Die Pflege ist die 
einzige Branche, wo sich eigentlich niemand für diese Rechtsverstöße 
interessiert."
Es gibt viele Menschen, die wie Claus Fussek in ihrer täglichen 
Arbeit mit dem Missbrauch von Medikamenten und Beruhigungsmitteln 
konfrontiert werden: Ärzte, Apotheker, Betroffene. "Mein Alltag belegt 
das gesamte Konstrukt von vermeintlichem Bedarf an Beruhigungsmitteln, 
der laschen Verordnungspraxis und dem Freifahrtschein für den Patienten,
 immer und überall zu vergleichsweise günstigen Preisen an diese Pillen 
zu kommen", schrieb uns Christian Richter, selbstständiger Apotheker in 
Bad Wilsnack. Er schildert auch das wirtschaftliche Problem: "Beratung 
zu weniger Medikamentengebrauch, und das beschränkt sich nicht nur auf 
das Feld der Beruhigungsmittel, führt zwangsläufig zu verringerten 
Umsätzen."
Das Problem ist nicht, dass Menschen in einer Krise ein Medikament 
nehmen. Das Problem ist, wenn sie von ihren Ärzten nicht hinreichend 
über die Risiken aufgeklärt werden – oder wenn man sie gar nicht fragt 
oder fragen kann, wie es in Pflegeheimen offenbar häufig der Fall ist. 
Der Sozialpädagoge Claus Fussek kennt Heime, in denen die Schlaf- und Beruhigungsmittel einfach hingestellt
 werden, damit die Dementen sich daran bedienen. Viele Pflegeheime, sagt
 er, betrete kaum je ein Facharzt. Die Hausärzte gingen nicht in die 
Stationen, sondern läsen stattdessen die Akten im Schwesternzimmer. "Was
 sollen wir denn machen?", fragten ihn die Pflegerinnen. "Wir müssen die
 Station der Nachtwache um 19 Uhr liegend übergeben." Und die 
Nachtwache, das seien oft die Leiharbeiter  von der Zeitarbeitsfirma, 
die weder die Patienten noch die Medikamente kennen. Oft sei eine 
einzige Pflegekraft verantwortlich für 40, 50 Leute, sagt Fussek.
Weiter auf:
http://www.zeit.de/2015/30/pflegeheim-medikamente-beruhigungsmittel
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